Nëntori Shqiptar
Prosatext, Darëzezë e re, 28. November 2025

Ich kam zum ersten Mal am 1. August 2022 nach Albanien, nach Vlora. In der Schweiz markiert dieser Tag einen grundlegenden Bund: eine Konföderation, die aus einem Schwur, aus Vertrauen, aus einer zivilen besa entstand – nicht aus einem Nationalstaat. In Albanien hingegen setzte ich am selben Tag den Fuß in jene Stadt, in der am 28. November 1912 die rot-schwarze Flagge der Unabhängigkeit gehisst wurde. Wir waren nicht als Touristen gekommen. Wir suchten einen einfachen, stillen Ort, nahe dem Meer. Und der Zufall – oder die Vorsehung – führte uns nach Darëzezë e Re, ein Dorf am Ende einer Straße, die nirgends sonst hinführt als an die Adriaküste. Ein Ort, den man niemals zufällig findet.

Die Bewohner empfingen uns mit entwaffnender Gastfreundschaft: Sie setzten uns, sie speisten uns, sie hörten uns zu; sie gaben uns einen Kaffee, einen Raki, ein weiteres Wort in einer Sprache, die ich nicht kannte. Am Ende der ersten Woche brauchte die Frage „Könntest du hier leben?“ keine Antwort mehr. Sie hatte sie längst erhalten. Einige Monate später kehrte ich allein zurück. Die Sprache lernte ich langsam, die Gesten des Dorfes schneller. Ich wollte die Geschichte von Darëzezë e Re schreiben. Ich dachte, es würde genügen, zuzuhören und dann zu erzählen. Doch die Sprache leistete Widerstand, Türen schlossen sich, Zusammenarbeit verdunstete.

Anfang 2024 lag das Projekt „im Koma“. Dann zerstörte ein Bandscheibenvorfall alles und hielt es an. Und dennoch veränderte sich im Laufe der Monate – zwischen Tirana und dem Dorf – etwas: Ich versuchte nicht länger, ein Dorf zu erklären. Ich begann ein Albanien zu verstehen, das ich zuvor nie gesehen hatte. In Tirana fand ich Kultur, Debatten, Vielfalt. Im Dorf fand ich Wahrheit, Langsamkeit, Verletzlichkeit. Zwei parallele Welten, unmöglich zu vereinen, und doch beide unverzichtbar.

Da begriff ich einen Satz, den ich überall hörte: Es gibt kein Vertrauen mehr. Misstrauen ist zur stabilsten Institution des Albanien nach 1997 geworden. Und paradoxerweise vertraute man mir oft gerade deshalb, weil ich ein Fremder war. Aus dieser Kreuzung – diesem verletzten Vertrauen, das dennoch gegeben wurde – entstand Albanografia: ein Versuch aufzuschreiben, was bleibt, was fehlt, was schmerzt und was heilen kann. Nëntori Shqiptar ist der Monat, in dem Albanien über sich selbst spricht. Ich scheine Fragen zu stellen – in Wirklichkeit höre ich zu.

Am 22. November wird der Kongress von Manastir (1908) erinnert, als Lehrer, Schriftsteller, Priester, Dichter, Bektaschis, Patrioten und Autodidakten sich versammelten, um das albanische Alphabet zu vereinheitlichen. Es war kein staatlicher Akt, kein militärischer Beschluss, nicht einmal ein politischer im klassischen Sinne. Es war ein Akt der Zivilgesellschaft: ein Akt des Erinnerns, der Klarheit, des Überlebens. Ein Schritt, der einem verstreuten, teils erniedrigten, teils verfolgten Volk ein einziges Werkzeug gab: eine gemeinsame Sprache, von ihm selbst geschrieben. Der Kongress schuf ein Alphabet, das in der Lage war, die Sprache so aufs Papier zu bringen, wie sie gesprochen wird – eine organische Schrift, die die Unterschiede von Tälern und Bergen, vom Land und vom Exil verband. Ein kohärentes System, noch bevor die Linguistik selbst zu einer Wissenschaft wurde. Das Albanische entstand nicht in kaiserlichen Kanzleien oder Akademien, sondern in Häusern, in teqes, in odas, in Dörfern, in den Diasporas von Armut und Stolz. Der 22. November erinnert daran: Das Albanische ist älter als seine Schrift, und seine Schrift älter als sein Staat. Ein Volk kann vor dem Staat existieren – und manchmal trotz ihm.

Der 25. November, der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, ist in Albanien wie in vielen Ländern kein Feiertag, obwohl er von der UNO anerkannt ist. Und doch sind überall auf der Welt Frauen die ersten Opfer: in Kriegen, in Bürgerkonflikten, im öffentlichen und im privaten Raum. Allein in Deutschland wurden im Jahr 2023 dreihundertsechzig Frauen von ihrem Partner oder einem nahestehenden Menschen getötet. Und die Morde sind nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. Albanien ist kein anderer Planet: Über das Land zu schreiben, ohne diese Realität zu berühren, hieße am Kern vorbeizugehen.

Gerade hier, in der Bashkia Fier, im November – dem Monat, in dem die Befreiung vom Faschismus erinnert wird – wäre dies eine doppelte Unaufrichtigkeit. Denn im September 1943 schlossen sich achtundsechzig junge Frauen aus Fier dem Widerstand an. Zwei fielen: Liri Gero und Pinellopi Pirro. Liri wurde von den Nazis lebendig verbrannt. Andere wurden verletzt. Einige wurden später von der kommunistischen Diktatur verfolgt: zweimal Opfer, vom Faschismus und vom albanischen Staat. Die Gewalt gegen Frauen existierte vor dem Krieg, vor der Diktatur und verschwand auch nach der Befreiung nicht. Sie lebt in Gewohnheiten, in Witzen, im Schweigen, in der Müdigkeit, in der Scham. Oft beginnt sie, bevor ein Wort gesprochen ist.

Wie die Geschichte eines Mädchens aus einem Gymnasium in Tirana zu Beginn des Jahrhunderts, das begonnen hatte „wie ein Junge zu leben“ – Kleidung, Sprache, Haltung – bis hin zur Behauptung, sie könne keine Frau sein, weil sie Frauen liebe. Heute würde man das anders lesen. Doch ihre Lehrerinnen und Mitschülerinnen hatten verstanden: Als einziges Kind, überwältigt von einem allmächtigen Vater, hatte sie eine männliche Rolle angenommen, um der Vorstellung zu entkommen, Weiblichkeit sei Minderwertigkeit. Diese Geschichte ist nicht selten. Sie ist zutiefst zeitgenössisch. Und sie verbindet sich merkwürdig mit der alten Figur der burrnesha, jener Frauen des Nordens, die eine männliche Rolle annahmen, um Zwangsheirat zu entgehen oder Rechte zu erhalten, die Frauen verweigert wurden. Damals musste man ewige Jungfräulichkeit schwören. Heute genügt eine Demütigung, ein Druck, ein Schatten von Gewalt, damit ein Mädchen glaubt, sie müsse aufhören, sie selbst zu sein, um atmen zu können. (Das Mädchen fand später dank Lehrerinnen und Freundinnen wieder zu ihrer Weiblichkeit zurück.)

Die Zeiten ändern sich, aber die Wunden nicht. Die Wunde beginnt mit einer Idee: dass die Frau weniger wert sei als der Mann. Und eine Idee kann mehr Schaden anrichten als eine Faust. Der 25. November ist kein Tag gegen Männer; kein Tribunal, kein importierter Slogan. Er ist ein Spiegel. Ein Spiegel, dem die Gesellschaft ausweicht, weil er eine einfache Wahrheit zeigt: Ohne Frauen hält nichts. Doch sie sind diejenigen, die am leichtesten verletzt werden. 

Ich sage es als Mann und als Vater: Einer Frau oder einem Mädchen Schmerz zuzufügen heißt, die eigene Würde zu verlieren. Denn dein Leben beginnt im Körper einer Frau; du wirst durch sie geboren; deine Kontinuität geht durch sie hindurch; deine Erinnerung, dein Erbe, dein Name kommen von ihr. Kein Mann wird zum Mann, ohne jene zu ehren, die ihm das Leben gab. Und kein Mann bleibt ein Mann, wenn er jene nicht respektiert, die seinem Kind das Leben geben wird. Am Ende ist es die Frau, die den Mann macht. Vor dem Schutz steht der Respekt. Ohne Respekt gibt es keine Gesellschaft – nur Häuser, in denen man zwischen Scham und Schmerz überlebt. Der 25. November ist kein Vorwurf. Er ist eine Erinnerung: Eine Gesellschaft, die ihre Frauen misshandelt, zerstört sich selbst. Für dieses Albanien, das ich liebe, habe ich diesen Tag in meinen Nëntori Shqiptar aufgenommen. Für eine Gesellschaft, die schützt, ehrt und heilt.

Der 28. November, der Tag der Flagge, ist nicht nur ein historischer Jahrestag; er ist das Fest eines Zeichens. Und dieses Zeichen ist älter als der Staat, tiefer als die Politik: der Adler. Der Adler ist kein ornamentales Symbol. Er ist ein lebendiges Alphabet, ein Blick, eine Haltung, eine Höhe – eine Weise, in der Welt zu sein. Im Albanischen bedeutet shqip: klar sprechen, offen sagen, die Wahrheit nicht verhüllen. Der Adler ist das Sehen, die Sprache ist das Sprechen. Die albanische Flagge ist einzigartig: Sie repräsentiert kein verschwundenes Königreich, kein gefallenes Imperium, kein durch Mauern geschütztes Territorium. Sie repräsentiert einen Charakter, eine Erinnerung, eine Haltung. Ein Volk, das keinen Staat hatte, aber ein Emblem; keine Armee, aber eine Figur; keine Grenzen, aber eine überlieferbare Identität. Am 28. November feiern wir weniger die Geburt eines Staates als das Anerkennen einer Kontinuität: Albanien existierte vor Albanien.

Der 29. November, der Tag der Befreiung, ist kein Ende. Er ist ein Anfang. Man wird nicht befreit, wenn der Besatzer geht, wenn Statuen fallen oder wenn die Diktatur stürzt. Dann beginnt erst alles. Das albanische 20. Jahrhundert hat gezeigt: Jede Befreiung hinterließ eine offene Wunde. Die Unabhängigkeit hinterließ Spaltung. Die Besatzung hinterließ Trauer. Die Befreiung hinterließ die Diktatur. Der Fall der Diktatur hinterließ Leere. 1997 hinterließ Scham und Misstrauen. Befreiung muss als Handlung gedacht werden, nicht als abgeschlossene Erinnerung.

In Albanien erinnert der 29. November an die Befreiung vom Faschismus. In der Welt hingegen ist derselbe Tag der Internationale Tag der Solidarität mit dem Palästinensischen Volk: ein Volk unter Besatzung, zerstreut, erniedrigt, unterdrückt und verstümmelt – aber lebendig, sprechend, widerstehend und beharrlich. Es gibt unsichtbare Verwandtschaften zwischen verwundeten Völkern. Die Albaner wissen es, auch wenn der Staat es vergisst. Sie erkennen den Schmerz der anderen. Sie wissen, dass Freiheit nie endgültig ist – sie wird gebaut und wieder aufgebaut. Der 29. November ist keine umgeschlagene Seite, sondern eine Seite, die jedes Jahr neu geschrieben werden muss.

In Albanografia ist Nëntori Shqiptar keine Reihe nationaler Feiern. Er ist eine Karte: die Karte all dessen, was den Albanern ermöglicht hat, ohne Staat zu überleben, sich ohne Bücher zu verstehen, sie selbst zu bleiben ohne Grenzen, aufzustehen ohne Garantien. Albanografia zu schreiben ist weder Wissenschaft noch Reportage. Es ist ein Akt der Treue. Ein Versuch des Fremden, der ich bin, auf das zu antworten, was ich hier empfange: eine Sprache, eine Gastfreundschaft, eine alte Klarheit, eine seltene Fähigkeit zum gemeinsamen Überleben.

Wenn es einen Faden gibt, der den 22., 25., 28. und 29. November verbindet, dann diesen:
Die Albaner haben gelebt, überlebt und sind vorangegangen dank des Wortes, der Erinnerung, der Bewegung, der Würde und der Solidarität. Nëntori ist der Monat, in dem all dies am sichtbarsten wird. Albanografia ist meine Weise, davon Zeugnis zu geben.

Khayim Illia, Fremder und Albanograf