Berge im Spiegel
Es kommt vor, dass sich zwischen zwei Völkern ohne gemeinsame Grenze, mehr als tausend Kilometer voneinander entfernt, eine unsichtbare Linie spannt – nicht durch Politik oder Interessen, sondern durch eine Form der Wiedererkennung, die aus den Zufällen der Geschichte entsteht. Zwischen der Schweiz und den albanischen Ländern hat diese Linie die Gestalt eines langen Echos angenommen, als würden zwei weit entfernte Berge einander durch Täler, Hochebenen und Windkorridore hindurch antworten. Die Albanerinnen und Albaner, die in die Schweiz kamen, taten es nicht als Eroberer, sondern um zu überleben, zu arbeiten, weiterzugeben. Sie brachten eine Kultur mit, die von Stein und Hang geprägt ist, von den Häusern, die den Jahreszeiten standhalten, und vom langen Gedächtnis der Dörfer. Und in der Schweiz fanden sie einen Boden, auf dem dieses Gedächtnis nicht zerfiel, ein Land, das ebenfalls weiss, was es bedeutet, in der Höhe zu leben, sich auf die Seinen zu verlassen und Freiheit mit Diskretion zu verbinden. In Werkhallen, Schulen, Gemeinden und Fussballclubs entdeckten sie ein Land, in dem sprachliche Vielfalt keine Bedrohung ist, sondern ein Lebensmodus. Und die Schweiz erkannte in ihnen eine Bewegung, die ihr vertraut war: die Treue zur Grossfamilie, den Erfindergeist des Alltags, den stillen Stolz, die Fähigkeit, selbst in prekären Zeiten die Würde zu bewahren. Die Albanität schmolz nicht im helvetischen Topf; sie pfropfte sich auf. Und diese Pfropfung hielt, weil sie sich auf einen Stamm setzte, der die Härte der Jahreszeiten und die klaren Konturen abgelegener Häuser bereits kannte.
Die Schweiz in Albanien und im Kosovo
Umgekehrt hatte die schweizerische Präsenz in Albanien und im Kosovo nie den Geruch einer Einmischung. Sie entstand aus Begegnung, aus Exil und aus Rückkehr. Die Schweizerinnen und Schweizer, die als Fachleute, Lehrpersonen, Ingenieure oder Handwerker durch den Balkan zogen, waren keine Missionare des technokratischen Fortschritts; sie kamen oft mit der Demut jener, die wissen, dass Dinge repariert werden müssen, dass die zuverlässigsten Infrastrukturen jene sind, die man täglich pflegt, und dass Gemeinschaften sich neu aufbauen wie Trockensteinmauern: Stein um Stein. Ihre Präsenz wurde nicht durch imperiale Grösse erzwungen – eine solche hat die Schweiz nie gekannt –, sondern entstand aus menschlicher Nähe, aus den Dramen des Kosovo und den Erschütterungen Albaniens durch Besatzungen und Diktaturen. Und heute kehren viele, die in der Schweiz gelebt haben, nach Albanien oder Kosovo zurück, mit einem Blick, der beide Welten in sich trägt: helvetischer Organisationssinn, alpine Geduld und eine albanische Verbundenheit mit dem Herkunftshaus, jenem Ort, an dem die Erde noch lauter spricht als die politische Geschichte.
Bergverwandtschaft
Man sagt manchmal, die alpine und die balkanische Kultur seien gegensätzlich; in Wirklichkeit erkennen sie sich. Beide wissen, dass der Berg keine Kulisse ist, sondern eine Schule. Beide wissen, dass die Erde kein dekoratives Element ist, sondern eine Lebensbedingung. Zu unterschiedlichen Zeiten haben Albanerinnen und Albaner, Schweizerinnen und Schweizer unter demselben Grundregime gelebt: körperliche Arbeit, Transhumanz, Ernten, die die Jahreszeiten bestimmen, Herden, die den Fortbestand des Hauses sichern. Die bäuerliche und pastorale Welt ist kein Folklorethema; sie ist das, was der Menschheit seit zehntausend Jahren das Überleben ermöglicht hat. Und wenn man das Gedächtnis beider Völker freilegt, stösst man auf dieselbe Einsicht: Ohne Bauern gibt es keine Gesellschaft; ohne Hirten keine Weitergabe; ohne lebendige, nährende Erde keine Zukunft.
Der Mythos des grenzenlosen Fortschritts
Heute könnte man meinen, die Moderne werde uns retten, die Klimaanlagen würden uns vor der Erderwärmung schützen, die Technologie würde den Mangel an sauberem Wasser ausgleichen. Doch all das sind Illusionen. Der industrielle Fortschritt, zur Religion erhoben, hat die Menschen gelehrt, sich über den Boden zu stellen, als lebten sie auf einem Podest – oder auf einem kalten Stahlfuss, wie ich es als Kind hörte, ein künstlicher Block, der den direkten Kontakt mit der Erde eher verhinderte. Man kann ohne Bildschirme überleben, ohne Netzwerke, ohne komplexe Infrastruktur; aber man überlebt nicht ohne Saatgut, ohne fruchtbare Böden, ohne klares Wasser, ohne Herden, ohne landwirtschaftliche Arbeit. Die Kriege der Gegenwart und der Zukunft werden nicht mehr geführt, um Grenzen zu verschieben, sondern um den Zugang zu dem zu schützen, was Leben ermöglicht: Nahrung, Wasser, Schatten, minimale Biodiversität. Und jene, die die Erde erhalten haben, werden die einzigen sein, die das Menschliche bewahren können.
Darëzezë und La Sagne
Vielleicht ist es der Grund, weshalb ich in „meinem“ Dorf Darëzezë e Re eine Verwandtschaft mit La Sagne spüre, meinem schweizerischen Heimatort, jenem vergessenen Tal, in dem der Wind all das trägt, was die Städte nicht mehr hören wollen. Meer oder Schnee ändern daran nichts: Es gibt Orte, an denen man klarer sieht, dass die Erde die erste Bedingung jeder Gesellschaft ist. In solchen Dörfern wissen die Menschen, wie fragil die Welt ist, wie rasch Gleichgewichte kippen und dass Kontinuität nicht von Institutionen abhängt, sondern von der Sorge, die man dem Boden widmet. Und in diesem Spiegel erkennen sich Albanerinnen, Albaner, Schweizerinnen, Schweizer vielleicht enger, als sie es zugeben: zwei Völker kleiner Heimaten, zwei Kulturen verstreuter Weiler, zwei Erinnerungen, geformt von Herden, Ernten, Wäldern, Flüssen und der Notwendigkeit, gemeinsam zu überleben.
Ein gemeinsames Gebiet
Zwischen Albanern und Schweizern existiert ein Gebiet, das auf keiner Karte verzeichnet ist: jenes der Völker, die wissen, dass Erde, Wasser, Haus und lokale Gemeinschaft die unverzichtbaren Grundlagen einer lebbaren Zukunft sind. Ein Gebiet, in dem die Rückkehr zur Erde kein Rückschritt ist, sondern ein Erwachen aus der Illusion – die Entscheidung, vom Podest herabzusteigen und zum Boden zurückzukehren wie zu einer Quelle. Dieses Gebiet, geprägt von bäuerlicher Erinnerung, klimatischer Klarheit, föderierten Stammesstrukturen und widerstandsfähigen Dörfern, ist vielleicht das einzige wirkliche Versprechen in einem Jahrhundert, in dem der Fortschritt keine Garantien mehr bietet. Dieses Gebiet tragen jene in sich, die in Darëzezë oder in La Sagne leben, in Tropoja oder im Jura – Menschen, die wissen, dass Überleben und Freiheit bei der Erde beginnen und dass einheimische Völker der Welt noch immer etwas Wesentliches zu beizubringen haben.
